Unternehmenskultur im Zeitalter der Digitalisierung – Bällebad statt Kasernenhof?

Gastbeitrag von Sabine Kluge, Kluge + Konsorten 

Es könnte so einfach sein: Ändern sich Markt oder Technologie, dann wandelt sich die Leistungspalette. Soweit sind sich alle einig. Doch auch die Organisation, die diese Leistungen erstellt, muss sich den Gegebenheiten ihres Umfeldes anpassen, oder anders ausgedrückt, wenn sich „Frontstage“, unsere Marktperspektive, verändert, müssen wir „Backstage“ entsprechende Führungs- und Entscheidungskompetenzen entwickeln.

Diese Erkenntnis sickert spät und langsam in die Vorstands- und Entscheider-Etagen, und von dort ist es noch ein weiter Weg zur Umsetzung. Denn es bedeutet vor allen Dingen eines: Sich selbst und die eigene Erfolgsmuster von Führung und Entscheidung fundamental den Erfordernissen einer komplexen Umwelt anzupassen.

Die Herausforderungen von morgen werden auch und gerade Finanzdienstleister weniger denn je mit dem Handwerkszeug von gestern meistern.

Herausforderung Innovation: „Einer muss schließlich die Verantwortung tragen“ war gestern

Elektroindustrie und Automobilbranche investieren traditionell über zehn Prozent ihres Umsatz in Innovation, der Maschinenbau liegt laut ZEW/ISI Studie bei rund fünf Prozent und die Finanzdienstleister geben gerade mal 0,5 Prozent des Umsatzes für Innovation aus. Wann wollen sie eigentlich anfangen, wenn nicht jetzt? Wagt sich ein Wettbewerber vor, wird er bisweilen kritisch, bisweilen spöttisch von seinen Wettbewerbern beäugt. Ein Startup-gleiches Entwicklungslab auf der grünen Wiese? Kann nicht gutgehen, da die Anschlussfähigkeit an die Bestandsprodukte nicht gewährleistet ist. Eine organische Innovationsabteilung, in die Bestandsabteilung eingebettet? Kann nicht gutgehen, denn da fehlen Hunger und Pionierkultur…

Schnell sind die Kritiker und Spötter dabei, zu be- und verurteilen, was nicht geht.
Dabei geht es tatsächlich nur um eines: In komplexen Zeiten können wir realistisch weder Budgets noch Innovationen am Reißbrett planen. Das Experiment wird zur Dauereinrichtung, oder besser, die Haltung und Kultur, Experimente zuzulassen, die Ergebnisse schnell zu analysieren und die Organisation klug anzupassen. Das ist eine Führungsaufgabe ganz neuen Zuschnitts. Positionsmacht hilft hier nicht weiter. Es geht vielmehr ums Zuhören, aber auch darum, digitale, vor allem aber auch organisatorische Fragestellungen in der Tiefe verstehen zu wollen, mit Fragen zu führen, und jene entscheiden zu lassen, die augenscheinlich am tiefsten in der Materie stecken. Das mag gerade den etablierten Würdenträgern einer Organisation schwerfallen, denn wer will schon einem jungen Software-Experten glauben schenken, wenn er 30 Jahre die Geschicke eines Finanzunternehmens mit geleitet hat.  

Herausforderung Geschwindigkeit: „Wenn die Geschwindigkeit des Wandels außerhalb des Unternehmens die interne Veränderungsgeschwindigkeit überschreitet, ist das Ende nah“

Dieses Zitat stammt von Jack Welch, langjähriger Vorstand des US-amerikanischen Elektrokonzernes General Electric. Seit den 1990er Jahren nehmen die Produktentwicklungszeiten und Produktlebenszyklen in rasendem Tempo ab. Digitalisierung sorgt für eine Zunahme der Geschwindigkeit in allen Branchen, zudem für eine Zunahme von Daten und Informationen – eigentlich eine große Chance für Unternehmen. Doch viele Unternehmen auch in der Finanzbranche sind weit davon entfernt, diese Chance zu nutzen; vielmehr werden die beiden zu Komplexität führenden Phänomene als Bedrohung wahrgenommen und manch einer versucht sie schlichtweg zu ignorieren, weil, irgendwie ist es ja noch nicht ganz so schlimm, oder?

Und die Leasing-Branche? Aus einer prosperierenden Gegenwart heraus fällt es immer schwer zu glauben, dass jetzt der Zeit für den Wandel gekommen ist, und dass der Wandel bei den Unternehmenslenkern beginnt. Oft höre ich von Entscheidern: Wir sind längst soweit und haben verstanden – wenn nur unsere Mitarbeiter auch schon so weit wären. Da hilft es nur, zum Äußersten zu greifen und in den Dialog zu gehen. Und zwar von nun an: Ständig.

Mitarbeiter müssen die Herausforderungen des Unternehmens kennen, und zwar transparent und in der Tiefe. Zumindest muss die Offenheit und das Vertrauen da sein, Daten offen zu legen, so wie das beispielsweise das Telekommunikationsunternehmen Telefonica seit Jahren praktiziert: Jeder im Unternehmen hat Einsicht in alle Zahlen und Pläne. Das klingt womöglich verrückt, führt aber dazu, dass in Verbindung mit einem offenen Dialog alle Mitarbeiter an einem Strang ziehen und das Gesamtziel vor Augen haben. Diese Einigkeit sorgt bereits für den Abbau von Silos und für ein Verständnis von Richtung und Weg – ein enormer Zeitgewinn für eine Organisation – und: Verbundene Mitarbeiter bleiben länger. In Zeiten von Fachkräftemangel sind es Elemente wie Vertrauen, Verbundenheit, und das Gefühl, als Mitgestalter ernst genommen zu werden, die dafür sorgen, dass Menschen bleiben. 

Herausforderung Führung und Entscheidung: Wenn Komplexität das Problem ist, dann ist Partizipation die Lösung

Die Erkenntnis ist erschreckend logisch: Die Antwort auf das immer komplexere und damit schwerer steuerbare Umfeld kann nicht mehr Kontrolle, straffere Führung, enger definierte Prozesse, ambitioniertere Vertriebsziele sein. Systeme in einer vernetzten Welt können auf Komplexität nicht mit starrer Hierarchie reagieren. Unternehmen brauchen in einem komplexen Umfeld alle Potenziale ihrer Belegschaft. Es muss einen Ort für das Zusammenkommen allen Wissens, aller Erfahrung geben, und die Lust der Mitarbeiter, ihr Wissen zu teilen. Das ist zu 100% eine Kulturaufgabe, die vorgelebt werden sollte – von den Entscheidern, die die Vernetzungsmöglichkeiten schaffen, Vernetzungskompetenz vermitteln und eine Kultur von Offenheit, Partizipation und Agilität zur Chefsache machen.

Herausforderung "Bällebad": Anders führen, entscheiden und zusammenarbeiten

Partizipation bedeutet, alle gestalten die Zukunft des Unternehmens mit. Das bedeutet keineswegs basisdemokratische Prozesse, die die Entscheidungsfähigkeit des Unternehmens gefährden. Es ist vielmehr eine Frage der Haltung, Augenhöhe als Gebot der Stunde zu sehen, und eine Frage der Strukturen, die mit starren Hierarchien, Reporting-Wegen und unzeitgemäßen KPIs dem Wandel im Wege stehen. Nichts weniger als das erwarten die attraktiven Berufsanfänger heute von ihren Unternehmen; und eine Vision, für die es sich aufzustehen lohnt.

Gleichfalls ist klar: Die Kompetenzen zeitgemäßer Führung, Entscheidungsfindung und Zusammenarbeit sind keine gottgegebenen Naturgeschenke oder Naturtalente, sondern mehr denn je harte Arbeit jedes Einzelnen ohne Ausnahme. Sie bedürfen in allen Etagen des Unternehmens mehr denn je der Investition von Zeit und finanziellen Mitteln. Dies ist auch und vor allen Dingen ein Appell gerade an kleinere Unternehmen, die vielfach noch zu sehr „aus dem Bauch heraus“ gesteuert werden und mit den wachsenden Herausforderungen, auch mit dem anspruchsvollen Mitarbeiter zeitgemäßen Zuschnitts, immer weniger zurechtkommen. Sicher ist: Ein neues Führungsverständnis, das dafür sorgt, dass Führungskräfte dann erfolgreich sind, wenn sie ihre Mitarbeiter erfolgreich machen, fällt nicht vom Himmel. 

Über die Autorin

Die Autorin blickt auf 25 Jahre Strategische Planung, Learning and Development in einem multinationalen Industrie Dax-Konzern zurück, sie ist mehrfache Gründerin und Hochschul-Dozentin. Sabine Kluge ist Diplomkauffrau mit den Schwerpunkten Strategie und Unternehmensführung und systemischer Business Coach. Sie ist Geschäftsführende Gesellschafterin von Kluge + Konsorten. Das Berliner Beratungsunternehmen unterstützt und begleitet Unternehmen in Transformationsprozessen. 

 
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